Geschlecht und Schule
Gleichstellung als schulische und gesellschaftliche Herausforderung
In den letzten Jahrzehnten wurden im Bereich der Geschlechtergerechtigkeit große Fortschritte erzielt. Durch rechtliche Gleichstellung und eine Weiterentwicklung gesellschaftlicher Rollenbilder stehen die Chancen insgesamt deutlich besser als früher, dass Menschen unabhängig von ihrem Geschlecht ein selbstbestimmtes und gleichberechtigtes Leben führen können und Akzeptanz für vielfältige Lebensentwürfe erfahren. Gleichwohl sind eine tatsächliche Gleichberechtigung der Geschlechter und die Möglichkeit der freien Entfaltung ohne jegliche Einschränkung durch geschlechterbezogene Erwartungen noch immer nicht vollständig erreicht. Auch heutzutage existieren noch Sexismus, Frauenfeindlichkeit sowie Homo- und Transphobie. In einigen Bereichen nehmen diese sogar zu oder gewinnen an gefährlicher Brisanz – häufig in Kombination mit anderen Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit (vgl. z. B. Kaiser 2020). Außerdem lassen sich sowohl in der Schule als auch gesamtgesellschaftlich weiterhin Geschlechterstereotype und geschlechterbezogene Unterschiede feststellen, die eine benachteiligende Wirkung haben können. Beispielsweise wiederholen in Nordrhein-Westfalen mehr Schüler als Schülerinnen eine Schulklasse oder verlassen die Schule ohne Abschluss (vgl. amtliche Statistik des MSB 2020). Auf der anderen Seite entwickeln Mädchen in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern (mit Ausnahme von Biologie) tendenziell immer noch ein geringeres Interesse und Selbstvertrauen als Jungen (vgl. IQB-Bildungstrend 2018, S. 342), obwohl dieser Bereich gute Zukunftschancen bietet. Gesamtgesellschaftlich sind zum Beispiel Einkommensunterschiede zwischen Frauen und Männern (vgl. Statistisches Bundesamt 2019a), eine ungleiche Verteilung von Familien- und Erwerbsarbeit (vgl. ebd. 2019b) sowie Geschlechterunterschiede im Gesundheitsverhalten (vgl. WHO 2019, S. 33) von Bedeutung. In vielen Medien – gerade für junge Menschen – finden sich außerdem auch heutzutage einschränkende, klischeehafte Geschlechterbilder. Die angeführten Beispiele zeigen, dass noch immer viel zu tun ist, um Geschlechtergerechtigkeit in sämtlichen Bereichen des Zusammenlebens zu erreichen und nachhaltig zu festigen. Die Schule leistet mit geschlechtersensibler Bildung einen wichtigen Beitrag dazu.
Geschlechtersensible Bildung als Auftrag und Chance
Geschlechtersensible Bildung wirkt darauf hin, Benachteiligungen aufgrund des Geschlechts in der Schule zu vermeiden und abzubauen. Außerdem werden Lernende darauf vorbereitet, nach der Schulzeit ein gleichberechtigtes, selbstbestimmtes Leben zu führen und sich für Geschlechtergerechtigkeit einzusetzen. Geschlechtersensible Bildung zielt somit auf die Umsetzung des verbindlichen Auftrags des Grundgesetzes und des Schulgesetzes NRW eine tatsächliche Gleichberechtigung der Geschlechter zu fördern und auf den Abbau bestehender Nachteile hinzuwirken. Diese Verpflichtung wurde von allen Bundesländern durch den Beschluss der „Leitlinien zur Sicherung der Chancengleichheit durch geschlechtersensible schulische Bildung und Erziehung“ der Kultusministerkonferenz (2016) konkretisiert. Wenngleich die Förderung von Geschlechtergerechtigkeit eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe darstellt, kommt der Schule gemäß ihrem Bildungs- und Erziehungsauftrag eine wichtige Rolle zu. Entsprechend diesem Auftrag ist geschlechtersensible Bildung auch ein Merkmal von Schulqualität und bildet sich im Referenzrahmen Schulqualität ab. Für Nordrhein-Westfalen liegt zur Unterstützung von geschlechtersensibler Bildung und Erziehung in der Schule eine Pädagogische Orientierung vor.
Verwendete Literatur
- Kaiser, Susanne (2020): Hass gegen Frauen. Rechtsextrem und Sexist, unter: https://www.zeit.de/politik/deutschland/2020-02/hass-frauen-rechtsterrorismus-motive-taeter-hanau-feminismus
- Amtliche Schulstatistik des Ministeriums für Schule und Bildung NRW unter: https://www.schulministerium.nrw.de/ministerium/service/schulstatistik
- ISB-Bildungstrend 2018: Standat, Petra/Schipolowski, Stefan/Mahler, Nicole/Wierich, Sebastian/ Henschel, Sofie (Hrsg.): IQB-Bildungstrend 2018. Mathematische und naturwissenschaftliche Kompetenzen am Ende der Sekundarstufe I im zweiten Ländervergleich, Münster/New York.
- Statistisches Bundesamt (2019a): Verdienstunterschiede zwischen Frauen und Männer 2018 unverändert bei 21%, unter: https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2019/03/PD19_098_621.html
- Statistisches Bundesamt (2019b): In 35% der Paarfamilien mit Kind unter 3 Jahren arbeiteten 2018 beide Eltern. Aber: Bei 54% der Elternpaare war der Vater Alleinverdiener, unter: https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2019/12/PD19_473_122.html
- WHO (World Health Organization) (2019): World Health Statistics 2019, unter: https://apps.who.int/iris/bitstream/handle/10665/324835/9789241565707-eng.pdf?sequence=9&isAllowed=y
- Projektgruppe Genderportal der Universität Bielefeld (o. J.): Gender; Was bedeutet eigentlich gender?, unter: https://uni-bielefeld.de/gendertexte/gender.html
- Voß, Heinz-Jürgen (2019): Making Sex Revisited. Dekonstruktion des Geschlechts aus biologischmedizinischer Perspektive, Bielefeld.
Weiterführende Literatur
- Herwartz-Emden, Leonie/ Schurt, Verena/ Waburg, Wiebke (2012): Mädchen und Jungen in Schule und Unterricht, Stuttgart.
- Rendtorff, Barbara (2011): Bildung der Geschlechter, Stuttgart.
- Degele, Nina (2008): Gender / Queer Studies. Eine Einführung, Paderborn.
- Budde, Jürgen/Scholand, Barbara/Faulstich-Wieland, Hannelore (2008): Geschlechtergerechtigkeit in der Schule. Eine Studie zu Chancen, Blockaden und Perspektiven einer gendersensiblen Schulkultur, Weinheim und München.