Sprachsensibler Fachunterricht
Der Begriff „sprachsensibler Unterricht“ steht für einen Fachunterricht, in dem die Sprache bewusst als Mittel des Denkens und Kommunizierens eingesetzt wird, um fachliches und sprachliches Lernen zu verknüpfen.
Ein Beispiel:
Im naturwissenschaftlichen Unterricht analysieren die Lernenden ein Diagramm. Thema ist die Erhitzung des Wassers. Der Zeitverlauf wird auf der X-Achse angegeben, die Y-Achse zeigt die steigende Temperatur. Worin liegt nun der Unterschied zwischen folgenden Aussagen der Lernenden?
Äußerung a. „Die Zeit vergeht und die Temperatur des Wassers steigt.“
Äußerung b. „Je länger das Wasser erhitzt wird, desto höher wird die Temperatur.“
Beide Lernende betrachten das gleiche Diagramm und meinen vermutlich dasselbe. Doch während a. die Zeitdauer und den Temperaturanstieg des Wassers, sprachlich markiert durch die Konjunktion „und“, nebeneinander anordnet und sie als zwei Einzelbeobachtungen darstellt, zeigt b. eine Kausalität zwischen Zeit und Temperaturanstieg auf. Sprachlich markiert wird diese durch die Doppelkonjunktion „je…desto“ sowie die Komparativnutzung („länger…höher“). Äußerung b ist damit nicht nur sprachlich, sondern auch inhaltlich präziser als Äußerung a.
Aufgabe eines sprachsensiblen Fachunterrichts ist es, allen Schülerinnen und Schüler durch integrierte, gezielte sprachliche Unterstützung das fachliche Lernen zu ermöglichen und zu erleichtern.
Was ist Fachsprache?
Fächer haben je eigene Sprach- und Denksysteme, die sie von anderen Wissensdomänen unterscheiden. Was im Geschichtsunterricht mit „Druck“ als starke politisch, wirtschaftlich oder gesellschaftlich bedingte Handlungsaufforderung gemeint ist, entspricht nicht dem chemischen „Druck“, der eine Krafteinwirkung auf einen Körper auf einer Fläche von einem Quadratmeter angibt. Dass ursprünglich „drücken“ als „pressen, belasten, bedrängen“ (DWDS) verstanden wurde, macht deutlich, dass sich Begriffe und Sprachmuster im Laufe der Zeit an ihre Umgebung, ihre Diskursgemeinschaft, anpassen. Je nach Verwendung in einer (fachlichen) Diskursgemeinschaft werden sie mit je eigenen Bedeutungen angereichert. Die Sprechenden nutzen dann das fachsprachliche Register, um von dieser domänenspezifischen Bedeutung der Wörter und Wendungen Gebrauch zu machen. Sie nutzen es bewusst und wollen durch Fachsprache Zugriff auf das fachliche Wissen herstellen, Fachsprache ist hier also „Werkzeug des Denkens und Lernens“ (Feilke). Deshalb ist Sprachsensibilität wichtig. Ohne im domänenspezifischen Sprachregister kommunizieren zu können, gelingt das Erschließen der fachlichen Inhalte nicht.
Schülerinnen und Schüler wechseln im Verlauf eines Schultages Räume und Fächer und müssen sich dort nicht nur mit völlig verschiedenen Gegenständen auseinandersetzen, sondern eben auch mit den fachspezifischen Sprachmustern. Diese vermitteln zwischen den Fachinhalten und den Kommunizierenden in einem Fach. Dies sind vor allem Lehrende sowie Schülerinnen und Schüler. Was Lehrpersonen größtenteils durch ihr Fachstudium erworben haben, kennen Lernende noch nicht. Die vielfältigen fachsprachlichen Satzmuster und Fachbegriffe müssen sie noch erlernen:
- abstrakte Konstruktionen wie Freiheit oder Nation
- Fremdwörter wie Demographie
- selten gebrauchte Wörter Kompetenz, empirisch, Kriterien oder wenngleich
- spezifische Abkürzungen wie GmbH oder UNO
- skalenbildende Adjektive wie geometrisch, quadratisch oder rechtwinklig
- komplexe Satzstrukturen mit Attributen, Passivkonstruktionen und Konditionalsätzen
Wie unterrichtet man sprachsensibel?
Um den Zugang zu den spezifischeren Registern der Fachsprachen zu gewähren, das Werkzeug zum Umgang mit fachlichen Inhalten bereitzustellen, möchte sprachsensibler Fachunterricht:
- klar kommunizieren, welche sprachlichen Zielsetzungen es im jeweiligen Fach gibt,
- Transparenz herstellen über sprachliche Aspekte der Leistungserfassung,
- reflektieren, wie Lehrkräfte die Sprache im Fach verwenden,
- sprachliche Lerngelegenheiten mit passender Unterstützung schaffen,
- Materialien auf sprachliche Angemessenheit prüfen und
- sprachsensibler Fachunterricht blickt genau auf die sprachlichen Voraussetzungen bei Schülerinnen und Schülern.
Was ist Bildungssprache?
Ein übergeordnetes Register bildet die Bildungssprache, die die Grundlage für das gesamte schulische Lehren und Lernen bildet. Der Begriff „Bildungssprache“ bezeichnet ein sprachliches Register, das sich an der konzeptionellen Schriftlichkeit orientiert. Dieses sprachliche Register kommt zum Einsatz, wo Sachverhalte abgelöst von der jeweiligen Situation, verallgemeinernd und tatsachenorientiert für die Adressaten dargestellt werden. Bildungssprache wird daher nicht nur in Bildungskontexten genutzt, sondern auch in Zeitungs-und Massenmedien (Feilke 2022, S. 9).
Durch Verwendung des Registers Bildungssprache entsteht die nötige Distanz zu dem, worüber kommuniziert wird, um Abstraktes und Komplexes greifbar zu machen. Auch in mündlichen Kommunikationssituationen kommt es darauf an, etwas so zu schildern, dass die Erkenntnisse und Beobachtungen als losgelöst von der Person erscheinen. In Aussage a. oben müsste die Lehrperson nachfragen, ob ein Zusammenhang zwischen Zeitdauer und Temperatur vorliegt, demgegenüber können sich bei Aussage b. auch Nicht-Anwesende den Zusammenhang vorstellen.
Die gewohnte Alltagssprache weicht von Fach- und Bildungssprache ab, man nimmt Bezug auf Unmittelbares, benötigt keinen speziellen Begriff, wenn man zeigend auf „das da!“ aufmerksam machen will. Deshalb wird die Umgangs- oder Alltagssprache auch als Sprache der Nähe bezeichnet und ähnelt eher einem grammatikalisch unvollständigen mündlichen Sprachgebrauch. Der Zugang fällt leichter, die Diskursgemeinschaft ist umfangreicher.
Wie verbinden kognitiv-sprachliche Grundfunktionen die Fächer?
Verschiedene fachsprachliche Register erfordern verschiedene Methoden, um Schülerinnen und Schüler damit vertraut zu machen, das versteht sich von selbst. Es gibt jedoch sprachliche Operationen, die allen Fächern gemeinsam sind. Diese kommunikativen Formen tragen in allen Fächern in ähnlicher Weise zum Erwerb von Fähigkeiten und Kenntnissen bei. Ebenso dienen sie in allen Fachdomänen dem Austausch über die erworbenen Kenntnisse.
- Denken und Sprechen verbinden sich in diesen sprachlich-kognitiven Operationen in jedem Fach mit den domänenspezifischen Inhalten.
- Diese sogenannten kognitiv-sprachlichen Grundfunktionen zu schulen, hilft also beim Erwerb aller Fachsprachen.
Diese Grundfunktionen sind damit auch Vehikel zum Erwerb von Bildungssprache, sie wirken weit über schulische Lernzusammenhänge hinaus. Als Denkoperationen sind sie nicht sichtbar, fördern die Kommunikation über fachliche Inhalte aber überall. Sie können unterteilt werden in
- Aushandeln: aktivierende Such- und Orientierungshandlung, bei der z. B. Vorwissen erschlossen wird; durch lautes Denken, Nachfragen oder Notieren sichtbar;
- Erfassen / Benennen: die Merkmale relevanter Objekte, Lebewesen, Prozesse oder Ereignisse erfassen und bezeichnen;
- Beschreiben / Darstellen: zusammenhängende Beiträge über relevante Lebewesen, Objekte, Prozesse, Ereignisse usw. formulieren;
- Berichten / Erzählen: Ereignisse oder Erlebnisse aus der Vergangenheit darstellen, beim Berichten mit dem Anspruch auf Objektivität (z. B. Redewiedergabe), beim Erzählen die Subjektivität betonend bis hin zur Fiktion;
- Erklären / Erläutern: Prozesse und Ereignisse sowie deren Ursachen und Gründe erklären; Hypothesen formulieren über Wirkungsrelationen: Was hängt wovon ab mit welcher Wahrscheinlichkeit?
- Argumentieren / Stellung nehmen: zwischen „Behaupten“ und „Argumentieren“, „Überreden“ und „Überzeugen“ unterscheiden; mit Argumenten umgehen, diese überprüfen und ggfs. entkräften, mehrere Aspekte eines Gegenstands erschließen und analysieren, Schlussfolgerungen ziehen;
- Beurteilen / (Be)Werten: eigene Meinungen sowie den Standpunkt verständlich und überzeugend vertreten, Schlüsse ziehen bezüglich der Angemessenheit von Verhaltensweisen und der Geltung von Ursache-Wirkungsrelationen, dabei unterschiedliche Perspektiven berücksichtigen; Beurteilen bezieht sich auf wertfreie fachliche Annahmen, Bewerten erfordert den Rückbezug auf ein normatives System;
- Simulieren / Modellieren: eine kognitive sowie verbale Repräsentation eines Funktionszusammenhangs herstellen, worin abhängige und unabhängige Einflussgrößen unterschieden wird.
Wie wird zwischen Alltags- und Bildungssprache unterschieden?
Der kanadische Pädagoge Jim Cummins unterscheidet zwischen Basic Interpersonal Communicative Skills (BICS) und der Cognitive Academic Language Proficiency (CALP). BICS definiert er als Alltagskommunikation, in der wenig komplexe Themen begrifflich eher unpräzise ausgeführt werden. Schülerinnen und Schüler erreichen dieses Niveau in der Regel durch ihre Sozialisation. Demgegenüber definiert Cummins CALP als spezifisches Register, welches sich unter anderem durch höhere sprachliche Präzision, Komplexität, Strukturiertheit, Distanz oder Loslösung von spezifischen Kommunikationssituationen auszeichnet (Vollmer/Thürmann, 3f.). Dies entspricht also den Anforderungen der Schul- oder Bildungssprache.
Cummins‘ Eisberg-Modell weist oberhalb der Wasseroberfläche das leicht zugängliche Niveau der BICS auf, hier als allgemeine Gesprächskompetenz definiert. Unterhalb befindet sich das komplexere und schwer zugängliche Register der CALP. Vertikal zeigt das Schaubild links die kognitiven Anforderungen für BICS sowie CALP, die kognitiv-wissenschaftliche Sprachkompetenz, rechts sind Merkmale zur Beherrschung der Alltags- bzw. Bildungs- und Fachsprachsprache aufgelistet. Demnach sind kognitive Prozesse der Wissensverarbeitung, des Verstehensprozesse sowie die situationsgerechte Anwendung des Registers Teil der alltäglichen Kommunikation (BICS). Zur sprachlichen Beherrschung dieses Registers tragen die Fähigkeiten zur korrekten Aussprache, ein angemessener Wortschatz sowie das Konstruieren grammatikalisch korrekter Äußerungen bei.
Das Register der Bildungs- und Schulsprache (CALP) geht als kognitiv-wissenschaftliche Sprachkompetenz darüber hinaus. Hier sind außerdem die kognitiven Operationen Analysieren, Synthetisieren sowie die Auswertung gefragt. Sprachlich kommt hier ein vertieftes Wissen um die Bedeutungen und Bedeutungsvariationen von Wörtern und Sätzen hinzu.
Ziel fachsprachlicher Förderung im Unterricht ist es also, das komplexere Niveau der CALP zu erreichen. Dies geschieht durch gezieltes sprachliches Fördern der kognitiv-sprachlichen Grundfunktionen Aushandeln, Benennen, Beschreiben, Berichten, Erzählen, Erklären, Argumentieren, Beurteilen oder Modellieren. Nicht die bloße impulsive und implizite Anwendung in spontanen Situationen wie bei BICS steht also im Fokus, sondern ein bewusst gesteuertes Sprachhandeln, also die Metaebene des Sprachgebrauchs, die von Kindern und Jugendlichen selten außerhalb von Bildungsinstitutionen gelernt wird. Verstetigt sich die Anwendung komplexerer kognitiver Operationen, kann flexibel in verschiedenen Domänen sprachlich gehandelt werden.
Sichtbar ist dann bereits im Unterricht, dass und wie
- sich Lernende an unterrichtlicher Kommunikation beteiligen,
- sie sich Informationen beschaffen und erschließen,
- sie eigenes Wissen strukturieren, anpassen und erweitern,
- sie Arbeits- und Methoden präsentieren und diskutieren und
- inwiefern sie das eigene Vorgehen kritisch reflektieren und optimieren können.