1 Aufgaben und Ziele des Faches
Im Rahmen des Bildungsauftrags der gymnasialen Oberstufe erschließt Religionsunterricht die religiöse Dimension der Wirklichkeit und des Lebens und trägt zur religiösen Bildung der Schülerinnen und Schüler bei. Er wird in Übereinstimmung mit den Grundsätzen und Lehren der jeweiligen Religionsgemeinschaft erteilt.
Der Evangelische Religionsunterricht eröffnet damit eine spezifische Perspektive auf das Ganze der Wirklichkeit und befähigt zur Nutzung dieses spezifischen Modus der Weltbegegnung. Er ist auf eine dialogische Auseinandersetzung mit existentiellen Grundfragen und dem Phänomen Religion in seinen vielfältigen Erscheinungsformen und Facetten ausgerichtet. Dabei steht der christliche Glaube in seiner evangelischen Ausprägung im Mittelpunkt der Erschließungs-, Deutungs- und Urteilsprozesse.
Im Evangelischen Religionsunterricht geschieht die Erschließung der religiösen Dimension des Lebens in einer Perspektive, die durch ein Verständnis des Menschen und seiner Wirklichkeit geprägt ist, das in der biblisch bezeugten Geschichte Gottes mit den Menschen gründet. Sie schließt ausdrücklich die jüdischen Wurzeln dieser Geschichte ein und leitet sich aus der Auslegung von Leben, Botschaft, Tod und Auferweckung Jesu Christi ab. Für dieses Verständnis ist eine Grunderfahrung konstitutiv, die in reformatorischer Tradition als Rechtfertigung „allein aus Gnade“ und „allein durch den Glauben“ zu beschreiben ist. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass der Mensch den Grund, den Sinn und das Ziel seiner Existenz allein Gott verdankt. Gottes unbedingte Annahme enthebt den Menschen des Zwangs zur Selbstrechtfertigung und Selbstbehauptung seines Lebens. Sie stellt ihn in die Freiheit und befähigt zu einem Leben in Verantwortung, das auch in der Gemeinschaft der Glaubenden das Evangelium Jesu Christi bezeugt. Dies geschieht im Horizont einer Hoffnung, die schon jetzt trotz Leid und Tod auf eine heilvolle Zukunft vertrauen lässt und das Verhalten bestimmt. Diese Perspektive eröffnet einen Raum, in dem Schülerinnen und Schüler die Tragweite des christlichen Glaubens erproben können. Das Fach bietet darüber hinaus die Möglichkeit, an schulischen und außerschulischen Lernorten konkrete Ausdrucksformen christlichen Glaubens und Lebens kennen zu lernen und zu erproben.
Der Unterricht in Evangelischer Religionslehre achtet die persönlichen, unverfügbaren Glaubensüberzeugungen der Schülerinnen und Schüler. Er ist somit offen für alle Schülerinnen und Schüler, die an ihm teilnehmen wollen, unabhängig von ihren religiösen und weltanschaulichen Grundorientierungen. In diesem Sinn sichert der Evangelische Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach nach Art. 7 GG in Verbindung mit Art. 4 GG das Recht auf positive Religionsfreiheit des Einzelnen. Seine konfessionelle Ausrichtung wird durch die Konfessionalität der Lehrkräfte, ihre kirchliche Unterrichtserlaubnis und den Kernlehrplan gewährleistet.
Unsere Kultur und Gesellschaft verdanken sich gerade auch christlich begründeter Überzeugungen. Daher werden zentrale biblische Inhalte im kulturellen Gedächtnis in Erinnerung gerufen, aufgedeckt und geklärt. In einem offenen Dialog mit biblischen Grundlagen und den Traditionen des christlichen Glaubens in seiner evangelischen Ausprägung einerseits und mit pluralen religiösen Lebensentwürfen und Weltdeutungen andererseits gewinnen Schülerinnen und Schüler im Evangelischen Religionsunterricht Perspektiven für ihr eigenes Leben und die Orientierung in der Welt. Sie setzen sich mit religiös-ethischen Herausforderungen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Handlungsfeldern wie Kultur, Wissenschaft, Politik und Wirtschaft in Geschichte und Gegenwart auseinander. Dabei erkennen sie die Suche nach tragfähigen Lösungen auch als einen Auftrag der Kirche, lernen die evangelische Option eines freien und verantwortlichen Handelns im Alltag der Welt kennen und begegnen einem Ethos der Barmherzigkeit und der Gerechtigkeit. Auf diese Weise unterstützt der Evangelische Religionsunterricht durch seine konfessionelle Bestimmtheit die Identitätsbildung der Jugendlichen und jungen Erwachsenen und fördert in einem wechselseitigen Prozess gleichzeitig die Verständigung mit anderen religiösen und weltanschaulichen Positionen, der einen reflektierten Umgang mit der positiven Religionsfreiheit ermöglicht.
In diesem Sinn vertiefen die Schülerinnen und Schüler im Evangelischen Religionsunterricht der gymnasialen Oberstufe die in der Sekundarstufe I erworbenen Kompetenzen. Die Einübung elementarer Formen theologischen Denkens und Argumentierens sowie Urteilens befähigt am Ende der gymnasialen Oberstufe aus begründeter theologischer Perspektive zur Teilnahme am gesellschaftlichen Diskurs über Glauben und Leben.
In seinem Bezug zur Evangelischen Theologie führt der Religionsunterricht in der gymnasialen Oberstufe propädeutisch in wissenschaftliche Denk- und Arbeitsformen als spezifische Formen der Wirklichkeitserschließung ein und stellt fachspezifische Begriffe, Kategorien und Methoden exemplarisch vor, erörtert deren Notwendigkeit und erprobt deren Möglichkeiten. Der Evangelische Religionsunterricht schult durch eine vielfältige hermeneutische Auseinandersetzung methodische Fähigkeiten, die über bereichsspezifische Kompetenzen hinausgehen. Auf diese Weise werden durch den Evangelischen Religionsunterricht wichtige Grundlagen für ein wissenschaftliches Studium und für den Beruf als auch für die Übernahme von Verantwortung für das eigene Leben gelegt.
Innerhalb der von allen Fächern zu erfüllenden Querschnittsaufgaben trägt insbesondere auch der Religionsunterricht im Rahmen der Entwicklung von Gestaltungskompetenz zur kritischen Reflexion geschlechter- und kulturstereotyper Zuordnungen, zur Werteerziehung, zur Empathie und Solidarität, zum Aufbau sozialer Verantwortung, zur Gestaltung einer demokratischen Gesellschaft, zur Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen, auch für kommende Generationen im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung, und zur kulturellen Mitgestaltung bei. Darüber hinaus leistet er einen Beitrag zur interkulturellen Verständigung, zur interdisziplinären Verknüpfung von Kompetenzen, auch mit gesellschafts-, sprach- und naturwissenschaftlichen Feldern, sowie zur Vorbereitung auf Ausbildung, Studium, Arbeit und Beruf. Kompetenzerwartungen werden zu diesen Aufgaben, wie auch zu den für den Religionsunterricht in besonderer Weise konstitutiven personalen und sozialen Kompetenzen in Kapitel 2 nicht immer gesondert ausgewiesen, da der Aufbau und die Entwicklung dieser Kompetenzen eine Aufgabe aller Fächer darstellt. Operationalisierbare und überprüfbare Kompetenzerwartungen können ohnehin die Vieldimensionalität des Religionsunterrichts nicht vollständig abbilden; gleichwohl geht es im schulischen Religionsunterricht auch darum, verbindliche Kompetenzen zu erwerben und ihr Erreichen zu überprüfen.
Religiöse Bildung vollzieht sich im Evangelischen Religionsunterricht an fachlich unverzichtbaren Inhalten, die in Inhaltsfeldern gebündelt werden und deren Schwerpunkte eine Auswahl darstellen. Diese Inhalte konstituieren sich durch die Verschränkung und wechselseitige Erschließung der biographisch-lebensweltlichen Erfahrungen und Fragen der Schülerinnen und Schüler mit weltanschaulichen, theologischen und religiösen Deutungen der Wirklichkeit, insbesondere des Judentums und des Islams. In diesem Sinn werden zentrale Inhalte des christlichen Glaubens im Referenzrahmen des Gottes-, Selbst- und Weltbezuges des Menschen zu Gegen-ständen des Unterrichts und legitimieren sich durch ihren Bezug zum Bildungsauftrag, der spezifischen Perspektive des Faches und seiner dialogischen Anlage.
In der Einführungsphase stehen dabei vier inhaltliche Schwerpunkte aus vier Inhaltsfeldern im Zentrum der Erschließung. Dabei werden fundamentale Fragen des Faches geklärt sowie grundlegende Voraussetzungen für die vertiefende Bearbeitung aller sechs Inhaltsfelder in der Qualifikationsphase geschaffen.
Der Evangelische Religionsunterricht in der Qualifikationsphase wird in Grundkursen und in Leistungskursen erteilt.
Grundkurse führen in zentrale Fragestellungen, Sachverhalte, Problemkomplexe, Strukturen und Arbeitsmethoden des Faches ein. Sie lassen Zusammenhänge im Fach und über dessen Grenzen hinaus in exemplarischer Form erkennbar werden. In Verknüpfung mit zentralen Wissensbeständen vermitteln sie grundlegende fachbezogene Kompetenzen und leisten einen Beitrag zum interreligiösen Dialog.
Ein wesentliches Charakteristikum der Leistungskurse besteht in der methodisch und inhaltlich vertieften und erweiterten Auseinandersetzung mit den fachlichen Gegenständen, die zu einem Kompetenzerwerb auf höherem Niveau führt. Der erweiterte Zeitrahmen ermöglicht, insbesondere interkonfessionelle und interreligiöse Fragen ausführlicher mit einzubeziehen. Darüber hinaus fördern anspruchsvollere Lernformen ein höheres Maß an Selbstständigkeit, methodischer Sicherheit und inhaltlichen Kenntnissen. Projektorientierte Unterrichtsverfahren werden in umfangreicherem Maße eingesetzt und dazu genutzt, Möglichkeiten zur exemplarischen Teilnahme am gesellschaftlichen Diskurs zu religiösen Fragen zu schaffen.
Das folgende Schaubild veranschaulicht zusammenfassend den dialogischen Charakter des Prozesses der religiösen Bildung.