Hintergrundinformationen
Wirksame Unterstützungsangebote für Schülerinnen und Schülern mit herausforderndem Verhalten im Unterricht bereitzuhalten und gleichzeitig die Bedürfnisse aller Lernenden zu berücksichtigen stellt Schulen vor eine komplexe Aufgabe. Schulstatistiken zeigen in diesem Kontext eine zunehmende Bereitschaft zur Vergabe von Diagnosen im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung.
Die Zunahme der Vergabe gilt als Indiz dafür, dass Hilfen nicht ausreichend etabliert sind oder Maßnahmen nicht die gewünschte Wirkung entfalten (vgl. Hillenbrand 2019). Dies gilt nicht nur für Schulen sondern betrifft auch alle gesellschaftlichen Bereiche.
- Sind die steigenden Zahlen ein Beleg für die Anwendung des Ettiketten-Resourcendilemmas? (vgl. Bleidick 1988), oder
- Belegen die steigen Zahlen eine Verbreitung psychischer Problemlagen?
Ergebnisse der KIGGS-Studie
Der Kinder- und Jugendgesundheitssurvey des Robert-Koch-Instituts (KiGGS-Studie), erfolgte in zwei Erhebungswellen (2003 bis 2006 und 2009 bis 2012). Sie erhebt die Einschätzungen von Eltern 3- bis 17-jähriger Kinder und Jugendlicher. Die Studie verfolgt das Ziel, „im Sinne des Präventionsgedankens von Public Health eine Risikogruppe zu definieren und Anhaltspunkte für Prävention und Intervention zu liefern“. Aus diesem Grund sind die Befunde für pädagogisches Handeln von besonderer Relevanz.
Im Ergebnis stellen 20,2 % der Kinder und Jugendlichen eine „Risikogruppe für psychische Auffälligkeiten“ (ebd.) dar. Die Risikogruppe zeigt nach dem genutzten Instrument (Strengths and Difficulties Questionnaire) grenzwertige oder bereits auffällige psychische Phänomene. Die Befunde sind über die beiden Erhebungszeiträume hinweg stabil.
Ergebnisse der Bella Studie
Die BELLA-Studie basiert auf einer repräsentativen Teilstichprobe der KiGGS-Studie und identifiziert 10% der 7-17 jährigen Jugendlichen, die von klinisch relevanten Störungen über einen längeren Zeitraum betroffen sind (Ravens-Sieberer et al., 2015, S. 659).
Zudem berichten die Eltern von deutlichen Belastungen in einem oder mehreren Lebensbereichen (Hölling et al., 2014, S. 815).
Eine besondere Häufung zeigt sich im Alter zwischen 7 und 13 Jahren. Auch Geschlechtsunterschiede sind deutlich: 11,5 % der Mädchen werden im Vergleich zu 17,8 % der Jungen von den Eltern als auffällig eingeschätzt. Die Häufigkeiten gleichen sich im Jugendalter an. Gut belegte Risikofaktoren stellen der Migrationshintergrund und ein niedriger sozio-ökonomischer Status dar.
Ergebnisse der Studie von Schmidt et al.
Durch den Ausbau inklusiver Beschulungsformen besuchen bundesweit mehr als die Hälfte aller Schülerinnen und Schüler mit diesem Unterstützungsbedarf im Bereich der Emotionalen und sozialen Entwicklung eine allgemeine Schule. Seltener erfolgt der Besuch einer spezifischen Förderschule.
Genau diese Gruppe jedoch zeichnet sich durch sehr hohe Risikobelastungen aus:
In der Studie von Schmid und Kollegen (2007, S. 284) wiesen ca. 600 Schülerinnen und Schüler, die die Förderschule für Erziehungshilfe in Baden-Württemberg besuchten, multiple und klinisch ausgeprägte Störungen auf. Sie zeigten stark ausgeprägte Problembelastungen, die sich sowohl in externalisierenden als auch in internalisierenden Verhaltensweisen nachweisen ließen.
Schülerinnen und Schüler von Schulen für Erziehungshilfe sind also eine der am stärksten durch psychische Risiken und Auffälligkeiten belastete Gruppe von Kindern und Jugendlichen. Bei ihnen „zeigt sich eine sehr hohe Belastung sowohl in der internalisierenden als auch in der externalisierenden Gesamtskala (Schmid et al., 2007, S. 285).
Zugleich zeigt sich selbst bei einer solch hohen Belastung eine deutliche Unterversorgung: Nur die Hälfte der erfassten Kinder und Jugendlichen in den Schulen für Erziehungshilfe erhielt kinder- und jugendpsychiatrische Hilfen bei gleichzeitig hoher Inanspruchnahme sozialpädagogischer Maßnahmen. Die Autoren konstatieren damit einen Mangel an koordinierter und intensiver Entwicklungsförderung (service gap) (S. 289).
Sicherstellung von Ressourcen zur Unterstützung
Die empirisch belegte Kluft zwischen psychischer Risikobelastung von Kindern und Jugendlichen und fachlicher Unterstützung stellt die Dringlichkeit einer fundierten Unterstützung emotionaler und sozialer Entwicklungsprozesse heraus. Die Befunde belegen: Viele Kinder und Jugendliche mit psychischen Risikolagen erhalten bisher keine ausreichenden Hilfen durch das medizinische oder soziale Versorgungssystem (vgl. Casale et al., 2018).
In der Konsequenz führt dies zur Forderung nach bedürfnisorientierter Strukturierung und Gestaltung (sonder-)pädagogischer Unterstützung, die systematisch und präventiv erfolgen sollte. Angesichts der Stabilität psychischer Probleme und ihrer Bedeutung für die Bildungslaufbahn gilt es Möglichkeiten präventiver Hilfen (Hillenbrand, 2015) intensiv zu nutzen und auszubauen. (Najaka, Gottfredson & Wilson, 2001; Reinke, Herman, Petras & Ialongo, 2008).
Die aktuelle Forschung schlägt den Aufbau von Mehrebenensystemen der Prävention vor, die sich gezielt an den Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler ausrichten. Zwei wissenschaftlich geprüfte Modelle sind das Response-to-Intervention-Modell und das Schoolwide Positive Behavior Modell (Casale et al., 2018). Beide nutzen die Schule für die präventiven Maßnahmen (Hillenbrand & Hennemann, 2005). Die Basis bildet eine entwicklungsbezogene, engmaschige Begleitdiagnostik und die Nutzung evidenzbasierter Verfahrensweisen (Casale et al., 2018; Hillenbrand, 2015).
Die diagnostische Begleitung setzt an Fähigkeiten und Ressourcen der Zielgruppe an, die gemäß der Resilienzforschung zentrale Bedeutung für die Entwicklung psychischer Gesundheit trotz hoher Risikobelastung hat (Opp & Fingerle, 2008; Hillenbrand, 2008). Bei intensivem Unterstützungsbedarf geht die Perspektive, Fähigkeiten und Ressourcen wahrzunehmen oft verloren. Die Beschreibung von Problemen schiebt sich in den Vordergrund. Der (sonder-)pädagogischen Unterstützung kommt jedoch die Aufgabe zu, diese Schülerinnen und Schüler mit einer kompetenzorientierten Lern- und Entwicklungsplanung intensiv zu begleiten und für verbindliche Förderstrukturen und deren Durchführung und Koordination zu sorgen.
Zur Sicherstellung einer ressourcenorientierten Entwicklungsbegleitung und zur Gestaltung individueller Lernmöglichkeiten dient die hier vorliegende Matrix. Sie gibt Lehrkräften sowie Schülerinnen und Schüler ein strukturiertes Instrument an die Hand, die Dimensionen in Bereichen wie z. B. Selbst-, Sozial- und Lernkompetenz, sichtbar zu machen. So können individuelle Ziele, aber auch Unterstützungsmaßnahmen und Ressourcen an gleichen Kriterien kommuniziert, abgeglichen und überprüft werden.
Vertiefende Links:
Im Kontext
Inklusion - Ministerium für Schule und Bildung NRW
Inklusion - Kultusministerkonferenz
Sonderpädagogische Förderung - Ministerium für Schule und Bildung NRW
Kontakt QUA-LiS NRW
inklusion.schule(at)qua-lis.nrw.de