Neben einem fachlich-curricularen Aspekt hat sonderpädagogische Förderpraxis auch immer einen individuell-entwicklungsbezogenen Aspekt (Heimlich & Kahlert 2014, S. 163). Sonderpädagogische Bildungs-, Beratungs- und Unterstützungsangebote können beim einzelnen Kind oder Jugendlichen eine spezifische Ausprägung in bestimmten Bereichen haben, wodurch sich Schwerpunkte der Förderung ergeben. Die in der Regel miteinander verbundenen Schwerpunkte beziehen sich auf:
die Lernentwicklung,
die emotionale und soziale Entwicklung,
die körperliche und motorische Entwicklung,
die Entwicklung der Wahrnehmung,
die Entwicklung des sprachlichen und kommunikativen Handelns (vgl. KMK-Empfehlungen 2011).
Diese Entwicklungsbereiche sind für die Förderung von Schülerinnen und Schülern in den zieldifferenten Bildungsgängen Lernen und geistige Entwicklung grundlegend. (vgl. KMK-Empfehlungen für Förderschwerpunkte Lernen 1999 und geistige Entwicklung 1998)
Heimlich und Kahlert (2014) stellen mit ihren inklusionsdidaktischen Netzen ein Modell vor, welches den anspruchsvollen Unterricht im Fach mit den Ansprüchen und Möglichkeiten der Entwicklungsbereiche umspannt.
KMK-Empf. zur inkl. Bildung von Kindern u. Jugendl. mit Behind. in Schulen
AO-SF FöS Geistige Entwicklung
KMK-Empf. FöS Lernen
KMK-Empf. FöS Geistige Entwicklung
Inklusions-didaktisches Netz von Kahlert und Heimlich
Erziehung und Unterricht bilden eine Einheit, welche die…
Körperliche und motorische Ent-wicklung
Motorik
motorische Entwicklung
Förderung der Bewegungs-, Handlungs- und Wahr-nehmungs-fähigkeit
Senso-motorische Aspekte
Wahrnehmung
Wahrnehmung
das Wahrnehmungs- und Auffassungsvermögen verlangt eine individuelle Unterstützung
Lernentwicklung
Kognition
kognitive Entwicklung
Förderung der kognitiven Entwicklung
Kognitive Aspekte
Soziale und emotionale Entwicklung
Sozialisation
soziale und emotionale Entwicklung
Förderung der sozialen und emotionalen Entwicklung
Soziale Aspekte
Emotionale Aspekte
Sprachliches und kommunikatives Handeln
Kommunikation
sowie das sprachliche Handeln fördert
Förderung der kommunikativ-sprachlichen Entwicklung
Kommunikative Aspekte
Das Modell, welches hier die Grundlage zur Planung eines inklusiv gestalteten Unterrichts, der zieldifferentes Lernen ermöglicht, bildet, berücksichtigt die Entwicklungsbereiche auf unterschiedlichen Ebenen. Sowohl bei der Gestaltung der Aufgaben als auch der Strukturierung der Lernumgebung werden mögliche Entwicklungschancen, die aus den basalen Entwicklungsbereichen abgeleitet werden, berücksichtigt. Diese können je nach individueller Passung auch Bildungsanspruch an sich sein.
Dadurch dass die elementaren Bereiche der Entwicklung in der Kind-Umfeld-Analyse verankert sind, hat das „(…) letztendlich Konsequenzen hinsichtlich der didaktisch-methodischen Konzeptbildung und der Gestaltung der Lernsituationen. Sonderpädagogische Bildungs-, Beratungs- und Unterstützungsangebote können beim einzelnen Kind oder Jugendlichen eine spezifische Ausprägung haben (…)“ (KMK-Empfehlungen zur inklusiven Bildung 2011, S. 7). Die Lernsituationen benötigen eine entsprechende Strukturierung, so dass Denkprozesse, der Erwerb altersentsprechenden Wissens, sprachliches Handeln, emotionale und soziale Stabilität und Handlungskompetenz erworben werden können. Die Anregungen, die zur Förderung in den Entwicklungsbereichen gegeben werden, können ebenso positive Impulse auf die Lernprozesse der Klassengruppe haben. Es geht um die Schaffung eines lern- und entwicklungsförderlichen Umfeldes für alle Schülerinnen und Schüler (Werning/Löser in Werning u.a. 2012, S. 306).
„Inklusiver Unterricht darf von daher nicht nur auf Sprache und Denken abzielen, sondern steht vielmehr vor der Aufgabe, alle Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten von Schülerinnen und Schülern auszuschöpfen. Aus sonderpädagogischer Sicht sollten bei der inhaltlichen und methodischen Ausgestaltung stets die verschiedenen Entwicklungsbereiche berücksichtigt werden. Vor dem Hintergrund der modernen Entwicklungspsychologie ist dabei insbesondere an kognitive, kommunikative, sensomotorische, soziale und emotionale Aspekte [Hervorhebungen durch die Verfasserin] zu denken (vgl. Oerter/Montada 2002, S. 768; Werning u.a. 2002)“ (vgl. Heimlich & Kahlert 2014, S. 174).
Für die einzelnen Entwicklungsbereiche lassen sich Indikatoren benennen, die zur Ableitung von Entwicklungschancen genutzt werden können. Die einzelnen Entwicklungsbereiche lassen sich im realen Handlungsvollzug kaum voneinander trennen. Mit Blick auf die Eröffnung von Lernchancen erscheint diese Unterscheidung sinnvoll um Schwerpunktsetzungen in der Auseinandersetzung mit Bildungsinhalten deutlich werden zu lassen. (vgl. Terfloth und Bauersfeld, S. 149) Somit sind die einzelnen Indikatoren nicht isoliert zu betrachten, sondern korrespondieren häufig mit weiteren innerhalb eines Entwicklungsbereiches oder mit denen weiterer Entwicklungsbereiche.
Was ist damit gemeint?
„Emotionale Lernchancen beschreiben ein Verhalten, das den Bereich der Interessen, Einstellungen, Gefühle und Wertungen betrifft“(Terfloth und Bauersfeld 2015, S. 151). Die emotionale Entwicklung schafft wichtige Voraussetzungen für die Gestaltung sozialer Beziehungen (vgl. Pinquart u.a. 2011, S. 195). Soziale Lernchancen werden in sozialen Bezügen, in der Interaktion mit anderen ermöglicht und beeinflussen wiederum die emotionale Entwicklung.
Zusammenarbeit mit anderen bzw. in der Gruppe
kommunikative Kompetenz
Verhalten gegenüber Mitschülerinnen/Mitschülern, Erwachsenen
Interessen und Neigungen entwickeln und verfolgen
Motivation
Bereitschaft, sich auf Inhalte und Bearbeitungsformen einzulassen
Fähigkeit, zu unterscheiden und auszuwählen
Distanzverhalten zu Schülerinnen und Schülern bzw. Erwachsenen
Emotionen erkennen und äußern, Empathie entwickeln
Grad der Ausprägung von Selbstwertgefühl und einer realistischen Selbsteinschätzung
Kritik- und Konfliktfähigkeit
Was ist damit gemeint?
„Motorische Lernchancen beschreiben physische Fähigkeiten und Fertigkeiten (…)“ (Terfloth und Bauersfeld 2015, S. 151). Die Wahrnehmung bildet „das Portal für Informationen aus der Außenwelt und ebenfalls für Informationen über uns selbst (…)“ (Schwarzer 2011, S. 64). Wahrnehmung und Handlung stehen in ständigem Austausch zueinander (vgl. ebd.).
Bewegungsplanung: Vollzug von Handlungen und Handlungsabfolgen
Grob- und Feinmotorik
Wahrnehmungs- und Differenzierungsleistungen im visuellen und auditiven Bereich und bezogen auf Körperbewegungen
Orientierung im Umfeld
Aufmerksamkeit
Interesse an Bewegung
Bedürfnis nach Ruhe und Bewegung
Verfügen über Arbeitstechniken wie Schreiben, Schneiden, Kleben …
Was ist damit gemeint?
„Kognitive Lernchancen beziehen sich auf den Bereich des Erinnerns (Kennen und Reproduzieren) von Wissen und auf die Erweiterung intellektueller Fähigkeiten und Fertigkeiten“ (Terfloth und Bauersfeld 2015, S. 150).
aufgabenorientierte Anpassung der Arbeitsgeschwindigkeit
Regelverständnis
Motivation
relevante Handlungsziele auswählen (vgl. Terfloth & Cesak 2016, S. 17)
ablenkende Reize oder Handlungen in ihrer Wirksamkeit hemmen (vgl. ebd.)
Verfügen über metakognitives Wissen z.B. über Aufgaben, Personen, Strategien (vgl. Matthes u.a. o,J., S. 10)
das eigene Handeln planen, strukturieren und überwachen: Verfügen über metakognitive Strategien wie Prozesse der Kontrolle, Überwachung und Regulation (Frustrationstoleranz) (vgl. ebd.)
Ressourcenmanagementstrategien wie z.B. Gestaltung der Lernumgebung, Hilfe bei anderen suchen, effektive Zeitplanung (vgl. ebd.)
Entwicklung und Verfügen von Lernstrategien wie Wiederholungs-, Elaborations-, Organisationsstrategien (vgl. ebd.)
Aneignung von Bildungsinhalten
Transferleistungen
Entwicklung der Merkfähigkeit
vorausschauendes Denkens
Begriffsbildung, Anwenden von Begriffen, Zuordnung zu Oberbegriffen
Beurteilen und Bewerten von Zusammenhängen, schlussfolgerndes Denken
Lösen von Problemen
Was ist damit gemeint?
Kommunikative Lernchancen beziehen sich auf soziale und interaktive Verhaltensweisen. „Die Relevanz eigener Möglichkeiten der Kommunikation wird in sozialen Bezügen erfahren und an soziale Bedingungen und Gefüge angepasst“ (Terfloth und Bauersfeld 2015, S. 151).
Stimme, Aussprache, Redefluss
Zuhören können
phonologische Bewusstheit
nonverbales Kommunikationsverhalten: verfügen über angemessene Körperhaltung, Gestik und Mimik
sich selbst äußern in unterschiedlichen Situationen (Unterricht, Freizeit …) (vgl. Häußler 2015, S. 136)
auf Beiträge der Gesprächspartner entsprechend eingehen (vgl. ebd.)
ein Gespräch fortführen können (vgl. ebd.)
eigene Gedanken einbringen (vgl. ebd.)
Der Inhaltsbereich 2 „Lehren und Lernen“ des Referenzrahmes Schulqualität NRW verdeutlicht in den Dimensionen, die diesen Bereich strukturieren wie „sich mit der Kompetenzorientierung die Perspektive der pädagogischen Verantwortung verlagert, indem nicht mehr die Frage im Mittelpunkt steht, was im Unterricht durchgenommen wurde, sondern was die Schülerinnen und Schüler durch die entsprechenden Lernarrangements lernen und letztlich tatsächlich gelernt haben. Dies hat Auswirkungen auf didaktisch-methodische Zugänge und Verfahren und rückt die Lernentwicklung jeder und jedes Einzelnen und die Möglichkeiten ihrer Förderung in den Mittelpunkt. Es gilt, Lernarrangements wie auch spezifische Verfahren und Maßnahmen der Förderung so zu gestalten, dass Schülerinnen und Schüler ihre Potenziale entwickeln und ausschöpfen und die Ziele auch tatsächlich erreichen können. Dies beschränkt sich nicht auf den Fachunterricht, sondern erweitert die Perspektive auf die schulische Lernkultur mit all ihren Lern- und Erfahrungsmöglichkeiten und Angeboten“ (Einleitung zum Inhaltsbereich 2 im Online-Unterstützungsportal zum Referenzrahmen Schulqualität NRW) „Anspruch und Auftrag zur individuellen Förderung und zur Gestaltung inklusiver Bildung sind in diesem umfassenden Verständnis grundlegende Bestandteile der Gestaltung aller Lehr- und Lernprozesse und werden daher nicht in einer eigenen Dimension zusammengeführt. In der Dimension Schülerorientierung und Umgang mit Heterogenität finden sie zwar besondere Berücksichtigung, ohne dadurch jedoch ihre Relevanz in den anderen Dimensionen und Inhaltsbereichen zu verlieren“ (ebd.).
Der Dimension „2.6 – Schülerorientierung und Umgang mit Heterogenität“ sind im Referenzrahmen Schulqualität die folgenden Kriterien zugeordnet:
2.6.1 Die Planung und Gestaltung des Lehrens und Lernens orientieren sich an den Schülerinnen und Schülern.
2.6.2 Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Schülerinnen und Schüler sind grundlegend für die pädagogisch-didaktische Planung und Gestaltung.
Im Online-Unterstützungsportal zum Referenzrahmen Schulqualität NRW befinden sich zu diesen Kriterien, Arbeitsmaterialien, Reflexionsbögen für Lehrerinnen/Lehrer, Schülerinnen/Schüler und Schulleitungen. Weiterführende Links auf Projekte, Portale und Praxisbeispiele liefern anschauliche Beispiele. Literaturhinweise runden das Angebot ab.
Häußler, Michael (2015): Unterrichtsgestaltung im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung. Stuttgart: Kohlhammer.
Heimlich, Ulrich & Kahlert, Joachim (2014): Inklusion in Schule und Unterricht. Stuttgart: Kohlhammer.
Matthes, Gerald; Hofmann, Birgit und Emmer, Andrea (o.J.): Training des Lernhandelns. Ergebnisse einer Trainingsstudie mit lernbeeinträchtigten Schülern und Schülerinnen. Online verfügbar unter: https://publishup.uni-potsdam.de/files/150/matthes.pdf [01.08.2017]
Oerter, Rolf und Montada, Leo (Hrsg.) (2008): Entwicklungspsychologie. Weinheim, Basel: Beltz.
Pinquart, Martin u.a. (2011): Entwicklungspsychologie – Kindes- und Jugendalter. Göttingen: Hogrefe.
Schwarzer, Gudrun (2011): Entwicklung von Wahrnehmung und Motorik. In: Pinquart, Martin u.a.: Entwicklungspsychologie – Kindes- und Jugendalter. Göttingen: Hogrefe. S. 63-82.
Terfloth, Karin und Bauersfeld, Sören (2015): Schüler mit geistiger Behinderung unterrichten. München, Basel: Ernst Reinhardt.
Terfloth, Karin und Cesak, Henrike (2016): Schüler mit geistiger Behinderung im inklusiven Unterricht. München, Basel: Ernst Reinhardt.
Werning, Rolf und Löser, Jessica ( 2012): Integration und Inklusion. In: Werning, Rolf; Balgo, Rolf u.a. (Hrsg.): Sonderpädagogik. Lernen, Verhalten, Sprache, Bewegung und Wahrnehmung. München: Oldenbourg. S. 296-315